Bio-Pflanzenzüchtung ist Teil der ökologischen Transformation

Helena Maria de Oliveira Freitas ist Professorin für Biodiversität und Ökologie an der renommierten Universität Coimbra, an der Fakultät für Biowissenschaften. Sie studierte Biologie in Portugal und Deutschland und arbeitete in Stanford/USA zu Themen rund um den Klimawandel. Zurück in Portugal startete sie ihr eigenes Forschungsteam „Science for People and the Planet“ an der Universität Coimbra, das im Laufe der Zeit auf rund 250 Forscher in allen möglichen ökologischen Fragen von der Bodenökologie bis zum Klimawandel herangewachsen ist. Helena Freitas war auch Präsidentin der Naturschutzorganisation WWF in Portugal und ist Lehrstuhlinhaberin für Biodiversitätsschutz bei der UNESCO, wo sie ökologische Ziele in afrikanischen Staaten fördern will. Ein weiteres wichtiges Engagement ist ihre Rolle im Vorstand der EU-Kommission wo sie sich für Themen rund um den Klimawandel sowie für die FARM TO FORK-Strategie einsetzt. Sie engagiert sich sehr für den ökologischen Wandel und ist eine der wichtigsten Unterstützerinnen des Zentrums für angewandte Wissenschaft in Idanha, dem ersten Wissenschaftszentrum für ökologische Landwirtschaft in Portugal, welches sich inmitten 800 Hektar Bio-Landwirtschaft befindet. Und dies ist auch der Ort, wo Sementes Vivas in Portugal Bio-Saatgut züchtet. Das folgende Interview wurde von Karin Heinze, BiO Reporter International, geführt.

Karin Heinze: Was für eine erstaunliche Karriere, liebe Helena Freitas. Sementes Vivas und Lebende Samen können sehr dankbar sein, Sie als starke Unterstützerin und Spezialistin für Ökologie und Biodiversität an ihrer Seite zu haben. Können Sie uns sagen, wie Sie mit der Saatgut-Initiative in Kontakt gekommen sind und warum Sie ihre Arbeit unterstützen?

Helena Freitas: Es muss auf einer der Konferenzen gewesen sein, die 2016 und 2017 von der Gemeinde Idanha und Sementes Vivas organisiert wurden. Damals habe ich eine Strategie und einen Fahrplan für regionale Initiativen und lokale Cluster entwickelt, um lokale Ressourcen zu fördern, um das Gesundheits- und Bildungssystem zu verändern und die Beschäftigungsmöglichkeiten hier vor Ort zu verbessern. Für mich zeigte die Firma Sementes Vivas ein großes Potenzial für die lokale Entwicklung, eine Art Drehscheibe für Veränderung. Hier eröffnete sich die Möglichkeit, durch den Anbau von lokalem Saatgut und durch die biologische Pflanzenzüchtung völlig neue Wege einzuschlagen. Zwei Aspekte, die mir am meisten gefallen haben: Das Ziel, die traditionelle Landwirtschaft in ein innovatives, zukunftsorientiertes Landwirtschaftssystem im Einklang mit der Natur umzuwandeln. Der zweite Aspekt war, dass diese jungen Menschen hoch motiviert waren und in eine Region zogen, die in Gefahr lief, zu entvölkern – unter anderem aufgrund des Mangels an Beschäftigungsmöglichkeiten. Sementes Vivas gründete etwas wirklich Inspirierendes, etwas Neues – ein großartiger Ansatz. Stefan Doeblin und sein Team haben es geschafft, in Idanha ein nachhaltiges Unternehmen zu gründen und bezogen dabei sowohl die Gemeinde als auch den Bürgermeister mit ein. All dies warf ein positives Licht auf Sementes Vivas, zeigt das hohe Potenzial der Ideen der Initiative und überzeugte mich, sie seitdem zu unterstützen.

Karin Heinze: Was ist seither geschehen, worin besteht die Zusammenarbeit?

Helena Freitas: In vielen Diskussionen und engem Austausch haben wir gemeinsam die Idee entwickelt, ein Bio-Zentrum für praktische Feldarbeit, Zucht und Forschung in Idanha zu gründen.

Karin Heinze: Welche Rolle spielt Saatgut im Bio-Zentrum?

Helena Freitas: Lokales Saatgut zu sammeln und zu sichern und somit genetische Ressourcen zu erhalten ist ein großes Ziel und eine sehr wichtige Aufgabe. Dies in einem internationalen Netzwerk und in Zusammenarbeit mit der nationalen Seedbank (INIAV) zu tun ist wunderbar. Aber es gibt ein weiteres wichtiges Narrativ, welches auch mit den Plänen eines Bio-Zentrums sowie mit den Zielen vieler Übergangsinitiativen in der EU und weltweit im Einklang steht – das ist das Narrativ des Wandels. Die Klimakrise lässt sich nicht wegdiskutieren und die Transformation unserer Lebensmittelsysteme spielt eine große Rolle bei ihrer Bewältigung. Wir brauchen echten Wandel in unserer industriellen, verschwenderischen Land- und Lebensmittelwirtschaft – wir müssen anders wählen, kaufen, kochen und sogar anders essen. Das ist eine Herausforderung für uns alle, aber es gibt keinen anderen Weg! In unserem kleinen Projekt sehe ich einen nachhaltigen Weg in die Zukunft. Wir haben die Chance, den ökologischen Wandel voranzutreiben und das Wissen über den ökologischen Landbau und die Pflanzenzüchtung mit anderen Interessierten zu teilen. Ökologischer Züchtung ist ein wichtiges Instrument für mehr Biodiversität das es zu nutzen gilt. In unserem Wissenschaftszentrum für den ökologischen Landbau und biologische Pflanzenzüchtung können wir außerdem auch an Programmen zur Steigerung der Bodenfruchtbarkeit arbeiten, sowie zu Themen der Pflanzenphysiologie, Pflanzengesundheit, Pflanzenernährung, Zuchtforschung und vieles mehr forschen.

Karin Heinze: Wo steht das Bio-Zentrum jetzt? Gibt es staatliche Unterstützung?

Helena Freitas: Der Bauernhof und die Infrastruktur der Firma Sementes Vivas sind dort und die Gemeinde sowie das Ministerium für Landwirtschaft haben finanzielle Unterstützung versprochen. Dies war der Status im Sommer 2020, doch seither hat die Pandemie viele Aktivitäten gedämpft. Das war für unser Projekt natürlich nicht sehr hilfreich. Jedoch wir haben zwei Studenten ausgewählt, Marie und Paulo, um die Forschungsarbeit zu unterstützen, und wir sind dabei, mehr Personal und Gelder zu beantragen. Ein großer Vorteil ist die Beteiligung des FiBL Schweiz (Forschungsinstitut für ökologische Landwirtschaft). Von dessen fortschrittlichem Wissen, der Erfahrung und dem Netzwerk werden wir sicherlich profitieren.

Karin Heinze: Was ist mit der Unterstützung durch die EU?

Das ist ein kompliziertes Problem, weil es viel Unsicherheit gibt und natürlich das alte System mit seiner Lobby nach wie vor gut funktioniert. Auf nationaler Ebene und auf EU-Ebene gibt es einige gute Strategien und vielversprechende Pläne wie die Farm-to-Fork Strategie und die Klimaziele. Aber wenn es um die sehr konkrete gemeinsame Agrarpolitik (GAP) geht, sehen Sie die alten Lobbys mit ihren Zielen, die dem ökologischen Wandel entgegenwirken – trotz der Tatsache, dass wir nur ein Jahrzehnt Zeit haben, um einen echten Wandel hin zu mehr Klimaschutz zu ermöglichen und wichtige Weichen für mehr biologische Vielfalt sowie gesunde Böden und sauberes Wasser haben. Wir müssen den Prozess stark beschleunigen, um all dies noch in diesem Jahrzehnt zu schaffen.

Karin Heinze: Erkennen Sie ein wachsendes Interesse von Studierenden an Themen wie Ökologie, Bio-Samen und Biodiversität?

Helena Freitas: Die Umweltwahrnehmung junger Menschen und ihr Wunsch, ein anderes Sozial-, Gesundheits-, Ernährungs- und Landwirtschaftssystem zu schaffen, ist meines Erachtens wirklich stark. An meiner Universität sehe ich, dass immer mehr junge Menschen zum Studium ökologischer Fächer motiviert sind. Wir sind gerade dabei, einen neuen Master-Kurs für biologische Ressourcen und neue landwirtschaftliche Lösungen zu entwickeln. Unser Hauptziel muss darin bestehen, in den ökologischen Wandel und die Dekarbonisierung des Planeten zu investieren. Ökologisches Saatgut, lokale Sorten, die sich an die sich ändernden klimatischen Bedingungen anpassen können, spielen sicher eine wichtige Rolle und das Interesse an diesen Themen nimmt zu. Es ist unsere Chance, eine bessere Strategie zu entwickeln. Lassen Sie uns deshalb positiv und optimistisch bleiben.

Karin Heinze: Frau Freitas, möchten Sie eine zentrale Schlussfolgerung mit uns teilen?

Helena Freitas: Wir alle müssen die dringende Forderung dieses Jahrzehnts wahrnehmen und an Lösungen für eine Transformation arbeiten. Jeden Tag müssen wir unser Bestes tun und weiterhin kraftvoll zusammen mit unseren Überzeugungen arbeiten. Bio ist Teil der Lösung für die Zukunft unseres Planeten. Das Teilen und Verbreiten biologischer Prinzipien ist absolut wichtig, denn diese unterstützen unsere Gesundheit und die Gesundheit unserer Ökosysteme. Bio ist ein intelligenter Ansatz, denn wenn Sie den Planeten schützen, schützen Sie die Menschen und halten dieses komplexe System des Lebens am Laufen. Auf der anderen Seite, wenn wir als Menschheit auf unsere biologische Matrix zurückgehen, tief in unsere biologische Natur, können wir unsere wesentlichen Werte der Menschheit, Freundschaft, Liebe und Verständnis, Frieden, kulturelles Teilen neu beleben. Wir müssen unseren inneren Reichtum wieder aufbauen und so viele Aspekte der Schönheit und des Reichtums unserer Welt wahrnehmen und schützen. Dies ist der intelligenteste Weg, in Harmonie mit der Natur, Biodiversität und gemeinsamen Gütern zu leben.

Karin Heinze: Vielen Dank für diese interessanten Einblicke, Frau Freitas.